
Von Hans-Jürgen Amtage
Der 9. November ist ein Datum, das Deutschland verpflichtet. Es erinnert uns an die Pogromnacht von 1938 – an brennende Synagogen, geplünderte Geschäfte, geschändete Friedhöfe, an Verletzte, Verschleppte, Ermordete. Dieser Tag ist nicht nur ein Eintrag im Kalender; er ist ein Prüfstein dafür, ob wir heute begreifen, was damals geschah – und ob wir bereit sind, daraus Konsequenzen zu ziehen. Wer heute gedenkt, muss zugleich handeln: gegen Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit – und gegen ihre neuen, lauten wie leisen Formen in unserer Mitte.
Gerade in Minden und im Kreis Minden-Lübbecke erleben wir, wie gesichert rechtsextreme Kräfte wie die #AfD, die bei uns im Mühlenkreis in weiten Teilen dem faschistischen Höcke-Umfeld zugerechnet werden kann, wieder salonfähig werden wollen: im Netz, auf der Straße – und auch in kommunalen Gremien. Die Kommunalwahlen im September haben die Räte und den Kreistag neu zusammengesetzt; Mehrheiten sind brüchiger geworden, der Ton rauer, das Klima konfrontativer. Wer dort Verantwortung trägt, muss diese Verantwortung jetzt sichtbar wahrnehmen – nicht nur in Sonntagsreden, sondern in Abstimmungen, in Anträgen, in klaren Abgrenzungen. Demokratie bewährt sich im Alltag der Kommunalpolitik.
Verrohung im digitalen Raum
Besonders bedrückend ist die Verrohung im digitalen Raum. Unter Berichten über den Holocaust, über Auschwitz, über die Namen und Gesichter der Ermordeten tauchen lachende Emojis auf – ein kalter Hohn, der die Würde der Opfer verletzt und die Hemmschwelle weiter senkt. Das sind keine „dummen Späße“. Es ist kalkulierte Entmenschlichung in Kleinformat, tausendfach wiederholt, bis sie normal wirkt. Wo demokratische Parteien in unserem Kreis gemeinsam gegen rechtsextreme Anfeindungen und Hetze Stellung beziehen, ist das kein Symbolakt, sondern gelebte Brandmauer – und die braucht es.
Wir müssen außerdem über die Sprache sprechen. Worte sind kein Nebenschauplatz; sie sind Vorfeld und Versuchsanordnung der Tat. Wer Menschen systematisch entwertet – Jüdinnen und Juden, Geflüchtete, politische Gegner –, wer mit Gewaltfantasien spielt oder „nur“ mit ihnen kokettiert, verschiebt Grenzen. 1938 begann der Pogrom nicht aus heiterem Himmel; ihm waren Jahre der Hetze, der Herabsetzung, der gesetzlichen Diskriminierung vorausgegangen. Deshalb gilt: Ob Drohungen von rechts, Verharmlosungen des Nationalsozialismus oder widerwärtige „Witze“ über Gaskammern – all das ist kein Meinungssport, sondern ein Angriff auf die Menschenwürde und auf die Grundpfeiler unserer Ordnung. (Dass es solche Entgleisungen in der deutschen Debatte 2025 gibt, ist belegbar – und in jeder politischen Richtung inakzeptabel. Entscheidend ist, dass Demokratinnen und Demokraten sie überall und ausnahmslos zurückweisen.)
Was folgt daraus – konkret, hier vor Ort?
1. Klare Kante in Räten und Ausschüssen. Keine gemeinsamen Anträge, keine Koalitionen, keine Hinterzimmer-Deals mit Rechtsextremen. Die Brandmauer ist kein Zierband; sie ist Statik. Wer sie aufweicht, übernimmt Mitverantwortung für den Schaden.
2. Konsequente Moderation und Gegenrede im Netz. Kommunen, Vereine, Medien und Zivilgesellschaft brauchen Regeln und Routinen gegen hetzerische Kommentare: dokumentieren, melden, löschen – und vor allem: widersprechen. Schweigen normalisiert.
3. Erinnern als Gegenwartskultur. Gedenkveranstaltungen, Stolperstein-Biografien, Besuche von Zeitzeugnissen, Kooperationen von Schulen, Kirchen, Vereinen: Wer Namen nennt und Geschichten erzählt, macht die Würde der Opfer wieder hörbar – und immunisiert gegen die Enthemmung.
4. Schutz für Betroffene – Haltung für alle. Wer angefeindet wird, darf nicht allein gelassen werden: antisemitische, rassistische, antidemokratische Vorfälle müssen erfasst, angezeigt und öffentlich thematisiert werden. Gleichzeitig müssen wir den Vielen den Rücken stärken, die sich engagieren: in Initiativen, Kultur, Sport, Jugend- und Bildungsarbeit.
5. Politische Bildung – nicht als Nische, sondern als Infrastruktur. Schulen brauchen Zeit, Materialien, Fortbildungen; Städte brauchen Partnerschaften mit Gedenkstätten und Museen; Vereine und Kirchengemeinden brauchen verlässliche Förderung für Projekte, die Haltung üben. Demokratie ist kein Naturzustand. Sie ist ein Handwerk, das man lernt – oder verlernt.
Es reicht nicht, Kerzen anzuzünden
Der 9. November zwingt uns, beides zusammenzusehen: das Erinnern und das Entscheiden. Es reicht nicht, Kränze niederzulegen und Kerzen anzuzünden, wenn wir gleichzeitig zulassen, dass Menschenfeindlichkeit im Alltag Hof hält, sich in Räten wie in Minden einrichtet, in Kommentarspalten Beifall bekommt. Wir brauchen die Empathie der Einzelnen – und die Robustheit der Institutionen. Wir brauchen die leise Zivilität im Umgang – und die laute, deutliche Grenze gegenüber Verächtern der Menschenwürde.
„Nie wieder“ oder „Niemals vergessen“ sind keine Sätze über die Vergangenheit. „Nie wieder“ ist Gegenwartsarbeit. Hier. Heute. In Minden und im Mühlenkreis. Und sie beginnt mit einem einfachen, schwerwiegenden Wort, das jede und jeder von uns sprechen kann – im Rat, im Verein, im Netz, am Stammtisch: Nein!