Eine Betrachtung von Hans-Jürgen Amtage
Die vergangenen Tage haben es auch bei uns in Minden gezeigt: das Internet ist längst kein neutraler Marktplatz der Ideen mehr. Es ist ein Raum, in dem Hass, Hetze und Lügen mit erschreckender Geschwindigkeit kursieren – und damit nicht nur Einzelne verletzen, sondern auch das Fundament unserer demokratischen Kultur angreifen. Besonders deutlich geworden ist das nach der Berichterstattung des Mindener Tageblattes über den Auftakt der Interkulturellen Wochen, als sogenannte Kommentatoren auf Facebook das gesamte Paket widerwärtigster Aussagen auspackte.
Wobei klar ist, dass es bei bestimmten Entwicklungen dringend Handlungsbedarf gibt. Ein Beispiel ist das weitere Einbinden der ehemaligen Vorsitzenden des Integrationsrates Amal Hamdan, die gerade zu 2000 Euro Geldstrafe verurteilt wurde, weil sie öffentlich den Terrorangriff auf Israel billigte. Die zweifelsohne sehr engagierte Frau bei der Eröffnung der Interkulturellen Wochen der Stadt Minden in der ersten Reihe mitmarschieren zu lassen, ist mehr als unklug.
Doch zurück zum Kern dieser Betrachtung. Das Problem: Was früher Stammtischparolen im kleinen Kreis waren, erreicht heute Millionen in Sekunden. Und was früher plumpe Gerüchte waren, wird heute mit hochentwickelten Technologien wie Deepfakes so glaubwürdig inszeniert, dass selbst geübte Augen Schwierigkeiten haben, Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden.
Perfide einfache Mechanismen
Die Mechanismen, die diese Entwicklung antreiben, sind perfide einfach: Empörung, Wut und Skandale sorgen für Klicks. Besonders „gepflegt“ wird das von der als gesichert rechtsextrem eingestuften Alternative für Deutschland (AfD) und ihren Anhängern – auch hier bei uns in Minden. Hinzu kommen politisch aktive Einzelpersonen von freien Wählergruppen, die zwischen Aluhutmentalität und rechtsextremen Parolen pendeln. Alle unterstützt von Rechtsaußenmedien wie Nius, Tichys Einblick, Achgut.com und immer mehr auch Cicero und NZZ, die beispielsweise das aktuelle Geschehen in den USA als Vorbild für Deutschlands Zukunft sehen.
Plattformen leben von Aufmerksamkeit – und belohnen damit genau die Inhalte, die am meisten polarisieren. Wer Hass und Hetze verbreitet oder Lügen in zugespitzte Schlagzeilen gießt, hat damit oft eine größere Reichweite als jene, die sachlich argumentieren oder differenziert aufklären. So entsteht ein Kreislauf, in dem der lauteste, radikalste Ton die meiste Beachtung findet.
Das bleibt nicht folgenlos. Hass im Netz trifft reale Menschen. Journalistinnen, Politiker oder Angehörige von Minderheiten sehen sich Anfeindungen, Drohungen und Hetzkampagnen ausgesetzt. Für viele bedeutet das nicht nur psychische Belastung, sondern auch reale Gefahr: von Doxing (das internetbasierte Zusammentragen und anschließende Veröffentlichen personenbezogener Daten) über Stalking bis hin zu tätlichen Angriffen. Lügen wiederum – ob über politische Gegner, Impfungen oder gesellschaftliche Minderheiten – säen Misstrauen. Sie untergraben das Vertrauen in Institutionen, Medien und Wissenschaft. Wenn jede Wahrheit infrage gestellt wird, bleibt nur noch ein Grundgefühl der Unsicherheit. Und Unsicherheit ist der ideale Nährboden für Radikalisierung.
Die aktuellen Beispiele zeigen, wie konkret diese Gefahr ist: Der dokumentierte Anstieg von Hasskommentaren, die massenhafte Verbreitung politischer Deepfakes oder die erschreckende Rolle von Meme-Kultur in der Selbstinszenierung von Gewalttätern sind keine Randphänomene. Sie beweisen, dass digitale Hetze reale Konsequenzen hat – und dass das Problem weder national noch klein gedacht werden darf.
Gegenmaßnahmen ernsthaft verfolgen
Natürlich gibt es Gegenmaßnahmen. Die EU hat mit dem Digital Services Act die großen Plattformen stärker in die Pflicht genommen, NGOs und zivilgesellschaftliche Initiativen klären auf, und auch Schulen beginnen, Medienkompetenz zu schulen. Doch all diese Ansätze reichen nur dann, wenn sie zusammenwirken – und wenn sie ernsthaft verfolgt werden. Der Verweis auf „freie Meinungsäußerung“ darf nicht als Schutzschild für Hass und Hetze missbraucht werden. Meinungsfreiheit endet dort, wo Menschenwürde verletzt oder Demokratie destabilisiert wird.
Am Ende geht es um Verantwortung: die Verantwortung der Plattformbetreiber, Inhalte konsequent zu moderieren; die Verantwortung der Politik, Gesetze durchzusetzen; die Verantwortung der Gesellschaft, nicht jede Schlagzeile, jedes Video, jedes Meme unkritisch zu teilen. Und auch die Verantwortung des Einzelnen, genauer hinzusehen: Wer profitiert von einer bestimmten Nachricht? Ist das Bild echt oder manipuliert? Warum löst der Text so viel Wut in mir aus?
Hass und Lügen im Netz sind kein Naturgesetz. Sie sind von Menschen – zum Teil auch aus unserem unmittelbaren Umfeld – gemacht und können von Menschen eingedämmt werden. Die Frage ist, ob wir die Gefahr ernst genug nehmen. Denn eines ist klar: Wenn wir sie weiterlaufen lassen, riskieren wir nicht nur die Wahrheit im digitalen Raum. Wir riskieren das Vertrauen, das jede Demokratie braucht, um zu bestehen.